02/07/2024 0 Kommentare
SÜNDENBOCK Judas - Karfreitagspredigt 2023
SÜNDENBOCK Judas - Karfreitagspredigt 2023
# Theologie
SÜNDENBOCK Judas - Karfreitagspredigt 2023
Er hat es getan, daran besteht überhaupt kein Zweifel, liebe Gemeinde!
Er ist schuld, das liegt auf der Hand: Judas ist zum Verräter geworden.
Ohne ihn keine Verhaftung, keine Verurteilung, keine Folterung und Ermordung Jesu.
Ohne ihn - so könnte man entgegenhalten - allerdings auch kein Fortgang der Heilsgeschichte: Keine Kreuzigung - und was dann?
Wäre das ein Grund zum Jubeln?
Wir sind am Karfreitag zusammengekommen, um des Leidens und Sterbens unseres Herrn und Heilands Jesu Christi zu gedenken, liebe Geschwister!
Wir sind hier jedoch nicht - wie etwa bei einer Trauerfeier nach einem Amoklauf oder einer Naturkatastrophe - versammelt, um die bzw. das Opfer zu betrauern.
Werfen wir mal einen Blick in unsere Gesangbücher, um zu schauen, wie dort das Karfreitagsgeschehen betrachtet wird!
Es beginnt mit Lied Nummer 75: “Ehre sei dir, Christe”: Ein Lob- und Danklied auf das Opfer, das uns zugut am Kreuz erbracht wurde.
Nicht anders im Lied Nr. 76: “O Mensch, bewein dein Sünde groß”.
So geht es weiter bis zur Nummer 79.
Erst im Lied “O Traurigkeit, o Herzeleid”, das aus dem Barock stammt und einen katholischen Autor hat, wird tatsächlich um den leidenden, hier bereits verstorbenen und zu begrabenenden Jesus geweint. In dem folgenden Lied “Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen”, ebenfalls aus dem Barock, werden ähnliche Töne angeschlagen.
Das Leiden Christi wird in einer für mich oft schwer erträglichen Ausführlichkeit in etlichen Liedern entfaltet, so auch in “Wenn meine Sünd’ mich kränken” und noch plastischer in Paul Gerhardts “Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld”, wie auch in den folgenden Liedern, “O Welt, sieh hier dein Leben”, “O Haupt voll Blut und Wunden”, “Jesu, meines Lebens Leben”, “Du großer Schmerzensmann” und so weiter (ich will jetzt nicht alle aufzählen, wir blättern und überfliegen den Text).
So einfühlsam auch der Schmerz, die Angst, die Einsamkeit Jesu thematisiert werden: Es geht immer darum, ihm dafür zu danken, daß er dies alles auf sich genommen hat zu unseren Gunsten, die wir es eigentlich verdient hätten zu leiden und zu sterben.
Im 20. Jahrhundert ändert sich der Ton und die Betrachtungsweise: Friedrich von Boldelschwingh vergegenwärtigt in “Nun gehören unsre Herzen” das Leiden Christi zwischen den Zeilen. Wir ahnen, was ihm durch den Kopf ging und vor Augen stand, als er seine Verse dichtete: Das Wüten der gottlosen und menschenverachtenden Nazis, das an die Zustände im Römischen Reich erinnert im Hinblick auf die Brutalität und die Unentrinnbarkeit derer, die unschuldig leiden.
In “Das Kreuz ist aufgerichtet” werden wir dogmatisch belehrt, während wir in “Seht hin, er ist allein im Garten” hineingenommen werden in die Nacht des Gründonnerstags.
Sehr positiv und beinahe schon fröhlich klingen die aus dem Ausland stammenden Lieder “Du schöner Lebensbaum des Paradieses”, “Holz auf Jesu Schulter” und “Korn, das in die Erde”. Man spürt, daß hier andere theologische Traditionen ihre Spuren hinterlassen haben: Passion ist nicht nur das Leiden Jesu, sondern auch das Leiden derer, für die er einsteht, um sie zu befreien.
Ich betrachte die Lieder im Blauen Gesangbuch nur pauschal und ganz kurz, und ich stelle fest, daß hier - es handelt sich ausschließlich um Texte aus dem 20. und 21. Jahrhundert - ausdrücklich dazu aufgefordert wird, das “Jammern” zu lassen oder auch “nicht bekümmert” zu sein.
Das “Für uns” steht im Mittelpunkt. Einzig in “Were you there” werden wir zu Zeuginnen und Zeugen des Kreuzesgeschehens; nur scheinbar ist das auch bei “Kreuz, auf das ich schaue” der Fall, denn dort ist ein Zeichen, keine Person vor Augen, und dieses Symbol ist Quelle des Trostes, nicht des Mitleidens.
Ich fasse zusammen: Wir betrachten und bedenken in all diesen Liedern, wie Jesus gelitten hat und gestorben ist, und zwar aufgrund unserer Sünde und zu unserem Heil. Hier und da wird das theologisch eingeordnet als ein Opfer, das der himmlische Vater für uns bringt, oder auch eines, das Jesus selbst hingibt für uns.
Fast nirgendwo kommt Judas vor, obwohl er doch zweifellos derjenige war, der die gesamte Passionsdynamik ins Rollen brachte.
Und doch ist er die Haßfigur schlechthin, der Inbegriff dessen, was Abscheu erregt - und war jahrhundertelang die Steilvorlage für christlichen Antijudaismus als “der Juda”, der ausgerechnet mit einem Kuß unseren Herrn seinen Häschern auslieferte.
Die Evangelien berichten ausführlich.
Aber wir lesen selektiv.
Von seinem Selbstmord wissen wir. Und der paßt in das Schema des Verurteilungswürdigen, galt Selbsttötung doch bis vor kurzem ebenfalls als verwerflich.
Weshalb er sich erhängt hat, wollen wir dann schon nicht mehr wissen.
Wenn wir aber hinsehen, erfahren wir: Er hat bereut. Er war verzweifelt. Er hat getrauert.
Im Matthäusevangelium, Kapitel 27, Verse 3 bis 5, lesen wir: Als Judas erfuhr, daß Jesus zum Tod verurteilt wurde, packte ihn die Reue – denn er hatte Jesus verraten. Er brachte die dreißig Silberstücke zu den führenden Priestern und Ratsältesten zurück und sagte: »Ich habe große Schuld auf mich geladen. Ein Unschuldiger wird getötet, und ich habe ihn verraten!«
Sie antworteten: »Was geht uns das an? Das ist deine Sache!« Da warf Judas die Silberstücke in den Tempel, lief weg und erhängte sich.
Was ist nun mit dem raffgierigen Juden, den Judas angeblich so idealtypisch verkörpert?! - Nix, denn er gibt das Geld zurück, zumindest versucht er es. Die Priester, so verkommen sie auch sind, wissen allerdings genau, daß es sich um Blutgeld handelt, daß dieses Geld unrein ist und sie es nicht einfach in ihrem Besitz zurücknehmen können.
Daraufhin richtet sich Judas selbst, und zwar mit der Strafe, die in der Hebräischen Bibel für jene Menschen vorgesehen ist, die falsch gegen andere aussagen und so deren Tod verursachen. Ich zitiere (Dtn 19,16-19): Wenn ein Angeklagter behauptet, daß ein Zeuge ihn wissentlich falsch beschuldigt, dann müssen die beiden zum Heiligtum des Herrn gehen und ihre Sache den Priestern oder Richtern vortragen, die dann gerade im Amt sind. Diese sollen alles gründlich untersuchen, und wenn es sich herausstellt, daß der Zeuge den anderen mit vollem Wissen falsch beschuldigt hat, muß über ihn die Strafe verhängt werden, die er über den anderen bringen wollte.
Das ist, liebe Geschwister, für mich ein Zeichen, daß Judas kein “falscher Hund” war, sondern allenfalls verblendet wie Saulus, ehe er zum Paulus mutierte, ansonsten aber gesetzestreu.
Judas wurde also bewußt, was er getan hat, womöglich gegen seine Absicht. Denn er hatte Jesus vielleicht gar nicht töten, sondern vermutlich in die Enge treiben wollen, hatte sich womöglich ausgemalt, daß es bei der Konfrontation mit den Machthabern und deren Kolaborateuren zum großen Outing dessen kommen würde, der die Macht hat, die Römer in die Schranken zu weisen und das Reich Davids wiederherzustellen - zu herrschen also statt ohnmächtig zu sein, zu leiden und zu sterben.
Doch eben dieses, so hatte Jesus ja vorher angekündigt, müsse jetzt geschehen.
Gewiß: Er hat Judas ins Gesicht gesagt, es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren worden.
Aber, ganz ehrlich: Das hätte ich vermutlich auch gesagt in einer Situation auf Leben und Tod, schwankend zwischen Todesangst und dem Vorsatz, Gott die Treue zu halten, wenn mir der gegenübersteht, der diese Spannung auflösen wird und das letzte Kapitel einleitet.
Das ist doch menschlich - allzu menschlich: Jesus, wahrer Mensch, kennt den Zweifel, und auch Verachtung ist ihm offenbar nicht fremd.
Der sein Brot mit mir in die Schale taucht, der wird mich verraten, hatte Jesus geantwortet auf die Frage, wer es denn sei, der so Schreckliches tun werde. Das allerdings traf auf alle seine Jünger zu. Denn - und das wird gern übersehen - er hielt mit allen das letzte Mahl, ausnahmslos: Auch Judas war Gast an seinem Tisch und hörte die Worte: Nehmt und eßt! Das ist mein Leib. Und auch den Becher hatte Jesus mit Judas geteilt wie mit allen anderen Jüngern, indem er sagte: Trinkt alle daraus! Das ist mein Blut. Es steht für den Bund, den Gott mit den Menschen schließt. Mein Blut wird für die vielen vergossen werden zur Vergebung ihrer Schuld.
Wirft das nicht ein ganz anders Licht auf Judas?!
Der Sündenbock, von dem wir in der alttestamentlichen Lesung hörten - das ist doch Jesus!
Bezahlt für die Schuld aller, die Schuld auf sich geladen haben, wurde nicht mit Silbermünzen, sondern bezahlt hat er - mit seinem Leben, und zwar für uns alle, ausnahmslos.
Steht irgend jemand von uns wirklich besser da als Judas, der zwar Jesus verraten, der aber auch bitter bereut hat?
Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein!
Judas wußte, daß er nicht ohne Schuld ist, und deshalb vollzieht er das Todesurteil über sich selbst - obwohl er bereut. Doch wer bereut, aufrichtig bereut, muß sich nicht so grausam richten.
Wer nicht nur ein wohlfeiles “Tschuldigung!” vor sich hin murmelt, sondern sich zu seiner Schuld bekennt, dem merkt man an, daß es ihn etwas kostet, mit der Sprache herauszurücken.
Wie oft, liebe Gemeinde, drücken wir uns um ein solch klares Bekenntnis zu unserer Schuld, suchen nach Entschuldigungsgründen, versuchen abzumildern?!
Judas spricht es aus: “Ich habe Schild auf mich geladen.” - Und doch weiß er keinen Ausweg, weiß nicht darum, daß ein anderer für ihn (ja, auch für ihn!) und seine Schuld sterben wird an diesem Tag. Er kann es nicht verhindern, daß Jesus, den er “verraten und verkauft hat”, auch für ihn stirbt, ihn “erwirbt und errettet” (R. Wischnath).
Ich zitiere abschließend aus einem Text des früheren Cottbuser Generalsuperintendenten Rolf Wischnath (Junge Kirche 01/2023), der mich sehr bewegt und überhaupt zu dieser Predigt inspiriert hat:
An einem Kapitell der romanischen Wallfahrtskirche Saint-Marie-Madeleine im französischen Vezelay ist Judas zu sehen, am Strick, erhängt. Gleich daneben lädt Jesus - der auferstandene Jesus - ihn sich auf die Schulter und trägt als der Gute Hirte den Erhängten heim nach Hause. So ist auch Judas nicht verloren in Ewigkeit. So ist er erworben und errettet. Und wenn er in Ewigkeit vor Gott nicht verloren ist, wenn der Auferweckte ihn nicht verloren gibt, wen dürften wir dann heute verloren geben, verraten und verkaufen? - Nicht einmal uns selbst.
Amen.
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