02/07/2024 0 Kommentare
Wie neugeboren
Wie neugeboren
# Theologie

Wie neugeboren
“Ich fühle mich wie neugeboren”, liebe Gemeinde - das sagt jemand, der womöglich eine schwere Krise durchgemacht hat: einer, der von einer quälenden Krankheit genesen, oder eine, die nach einer langen Phase der Erschöpfung endlich wieder zu Kräften gekommen ist.
Wie neugeboren - quasimodo geniti - so lautet der Name dieses Sonntags; das Stichwort steht im 1. Petrusbrief, Kapitel 2, Vers 2, wo von den neugeborenen Kindern die Rede ist.
Wenn wir ein Neugeborenes sehen, schmelzen die meisten von uns dahin - so umwerfend niedlich sind diese ganz jungen Erdbewohner:innen in ihrer Zerbrechlichkeit und Bedürftigkeit - einerseits schon ganz Mensch, andererseits noch symbiotisch mit der Mutter verbunden, ohne Bewußtsein ihrer selbst und erst recht ohne Arg und Bosheit.
Von einer Erfahrung, die einer Wiedergeburt nahe kommt, von einer Errettung aus höchster Lebensgefahr singt der Beter des 30. Psalms - eines der ältesten Psalmen in unserer Bibel:
2Ich will dich erheben, Herr, denn du zogst mich empor und ließest meine Feinde nicht frohlocken wider mich.
3Herr, mein Gott, ich stöhnte zu dir, du hast mich geheilt.
4Herr, du holtest meine Seele aus der Unterwelt, riefst mich zurück ins Leben aus der Schar derer, die in die Grube sanken.
5Singet dem Herrn, ihr seine Getreuen, lobpreiset zu seinem heiligen Gedenken!
6Ja, nur kurz ist sein Zorn, lebenslang seine Huld, am Abend ist Weinen, doch am Morgen - Jubel!
7Ich sprach einst in sicherer Zufriedenheit: “Nie werde ich wanken!”
8Durch deine Huld ward ich auf feste Berge gestellt. Du verbargst dein Antlitz, da wurde ich aufgeschreckt.
9Zu dir, Herr, schrie ich, ich flehte zu meinem Herrn: 10“Was nützt dir mein Blut, wenn ich zur Grube fahre? Kann Staub dich preisen, deine Treue verkünden?
11Höre mich, Herr, und erbarme dich, Herr, sei mein Helfer!”
12Verwandelt hast du meine Klage in Reigentanz, hast gelöst mein Sackgewand, mich mit Freude umgürtet, 13damit mein Herz dir singe und nicht schweige. Herr, mein Gott, in Ewigkeit will ich dich preisen.
Liebe Geschwister, überraschenderweise gehören die soeben gehörten Verse nicht zu den Lese- und Predigttexten der Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, wenn man (wie wir Protestanten dies für gewöhnlich tun) die einzelnen Personen gewidmeten Tage außer acht läßt - hier der Denktag für Maria Magdalena, der wohl am 22. Juli im Kalender vermerkt ist.
Dabei klingen die Worte des 30. Psalms doch sehr österlich, passen meiner Ansicht nach wunderbar in diese Freudenzeit der Wende vom Tod zum Leben, vom Ende zum Neubeginn, in diese Zeit der Gnade Gottes, die uns Zukunft und Hoffnung beschert.
Was wir in unserer wohltemperierten Evangelischen Landeskirche wohl weniger kennen als manch enthusiastische freikirchliche Gemeinde sind Menschen, die sich in einer Weise exponieren, wie wir dies auch hier erleben: Das gilt uns als unangemessen, scheint nicht zu unserem nüchternen protestantischen Wesen zu passen: Daß vor der versammelten Gottesdienstgemeinde Glaubenszeugnisse abgelegt werden, das wirkt auf uns verdächtig, das weckt den Anschein von Inszenierung und also mangelnder Wahrhaftigkeit.
Dabei mangelt es womöglich uns: an jenem Mut, den Mund aufzutun und Gott laut zu loben für alle seine Wohltaten.
Ja, wenn es darum geht zu klagen - dafür sind wir schon eher zu haben!
Aber sich hinstellen und ein Bekenntnis ablegen, wie Gott hilfreich in unser Leben eingegriffen hat? - Das macht einen exotischen Eindruck, das verursacht bei manchen schon fast Fremdschämen.
Warum eigentlich?
Ist uns schlicht so innige Frömmigkeit fremd?
Oder liegt das Problem tiefer und besteht darin, Berichte von Heilung und Rettung für Märchen zu halten - schöne Geschichten von einer heilen Welt, die aber (leider, leider) nicht unsere Welt ist.
Dann hätten wir mit dem Gotteslob auch jede Hoffnung aufgegeben.
Der Psalmbeter dagegen platzt vor allen Leuten heraus mit seinem Lob, mit seiner Freude, er dankt und preist Gott, der ihn - wie man einen Eimer hochzieht aus dem Brunnen, um frisches Wasser zu schöpfen - herausgezogen hat aus dem Schlamassel, in dem er sich befunden hatte.
Natürlich wird das nur jemand tun, der tatsächlich gerettet wurde.
Unser Psalmbeter scheint ja, etwas salopp formuliert, dem Tod von der Schippe gehopst zu sein. Jedenfalls lag er Gott mit seinem Stöhnen in den Ohren.
Wir hören das meist nur dann, wenn jemand betroffen ist, der uns nahesteht. Aber natürlich wird immerzu und überall gestöhnt, nicht nur in Kriegsgebieten. Als ich im Januar im Krankenhaus lag, da war aus dem Zimmer nebenan ein beständiges Wimmern und Klagen zu hören - und als ich an dem Zimmer vorüberging (die Tür stand offen), sah ich, daß die Nachbarin eine riesige Wunde hatte, die den gesamten Oberschenkel einnahm, wo ihr die Haut fehlte; das muß furchtbare Schmerzen verursacht haben.
Paulus spricht in seinem Brief an die Gemeinde in Rom vom Seufzen der Schöpfung - und das zu einer Zeit, in der wahrlich nichts zu spüren und zu wissen war von jener Klimakatastrophe, die uns heute seufzen und stöhnen läßt. Gejammert und gestöhnt wird - gewohnheitsmäßig und professionell - von Interessenvertretern, die sich über hohe Preise, niedrige Löhne, zu viel oder zu wenig staatlichen Eingriff in das tägliche Leben beschweren; das gehört zur Demokratie dazu, wenn es auch manchmal lästig sein mag.
Zum Umgang mit Gott gehört es ebenfalls mit hinzu: ihm zu klagen, was uns quält. Was allerdings nur dann sinnvoll ist, wenn es einhergeht mit der Hoffnung auf Hilfe, auf Gottes Erbarmen und rettendes Eingreifen.
Der Psalmbeter hat Gottes Intervention erlebt, und er ist (wie wir so schön sagen können) “heilfroh” darüber. Deshalb kann er nun nicht mehr an sich halten, sondern lobt Gott in den höchsten Tönen.
Und damit nicht genug: Er fordert seine Glaubensgenossen auf, es ihm gleich zu tun.
Eigentlich tun wir das ja auch - mit jedem Lobpreis, das es in ritualisierter Form immerhin auch in unseren Gottesdiensten gibt, mit jedem Danklied, das wir gemeinsam anstimmen. Nur fehlt vielleicht die Erwartungshaltung, daß dies dann tatsächlich auch aufgegriffen und fortgeführt wird von anderen.
Wir fühlen uns zumeist wohler, wenn wir hinter den schützenden Mauern unserer Kirchen “unter uns” sind - obwohl wir gleichzeitig die kleine Zahl der Versammelten beklagen -, als wenn wir hinausgingen auf die Straßen, an die Hecken und Zäune, um Gottes Einladung auszurichten an die, die sich sehnen nach Rettung, nach Gemeinschaft, Geborgenheit und Schutz...
Und dann sind da ja auch noch die, die von sich meinen, sie hätten Hilfe gar nicht nötig. Im Rückblick erkennt der Psalmist, wie töricht es war, sich für unverwundbar zu halten: Ich sprach in sicherer Zufriedenheit: ‘Nie werde ich wanken!’
Denkste! Es geht viel schneller, als man sich das vorstellen kann, daß aus einem wohlgeordneten bürgerlichen Leben ein Chaos wird. Gerade in unserer von Wohnungsnot gebeutelten Stadt wissen wir, wie eins das andere geben kann: Kündigung - Alkohol - Trennung - Schulden - Verlust der Wohnung, Leben auf der Straße.
Wie gesagt: Der Psalmbeter blickt nicht von oben herab auf die Probleme anderer Leute, sondern ist selbst durch die Wüste gegangen, hat es am eigenen Leibe erlebt, was es bedeutet, am Abgrund zu stehen.
In einem - wie ich finde: sehr sympathischen - typisch jüdischen Gedankengang hält er Gott vor, daß es gar nicht in dessen Interesse liegen kann, jemanden zugrunde gehen zu lassen; denn wer in die Grube gefahren ist, der lobt Gott nicht mehr - und das, liebe Gemeinde, ist in den Augen des Beters der eigentliche Sinn des Lebens.
Am Schluß bekennt er: Du hast mein Sackgewand gelöst, mich mit Freude umgürtet, damit mein Herz dir singe und nicht schweige. Herr, mein Gott, in Ewigkeit will ich dich preisen.
Und das will er, wie gesagt, nicht als Solist tun, sondern im Chor all derer, die ebenso Gottes Güte erfahren durften wie er.
Bei einer rein künstlerischen Umsetzung - “singet dem Herrn, ihr seine Getreuen!” - kann es dabei aber schlichterdings nicht bleiben!
Und das tut es ja auch nicht. So wie Dietrich Bonhoeffer einst forderte, daß, wer gregorianisch singen möchte, zugleich für die Juden schreien müsse, trennen wir das liturgische Gotteslob nicht ab vom vernunftgemäßen Gottesdienst im Alltag der Welt, bringen uns ein mit Diakonie und Diskussion über gesellschaftliche Fragen, ringen um Antworten auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen in Anbetracht von Krieg und Klimakatastrophe, gesellschaftlicher Spaltung und manchem mehr, das uns allen mehr oder weniger zu schaffen macht.
Dem Psalmbeter genügt es nicht, noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Seine Krise war tiefer, er stand am Abgrund. Umso deutlicher spürt er die neue Chance, die ihm jetzt gegeben ist - und er will sie nutzen, denn Gott hat seine Klage in Reigentanz verwandelt, wie er im Überschwang formuliert.
Wie neu geboren - mit diesem Stichwort habe ich begonnen.
Wenn das nicht nur der Name des heutigen Sonntags ist, sondern sozusagen unser österliches Gefühl zum Ausdruck bringt, von Nichtigkeit und Leere gerettet, aus der Trauer in den Jubel gezogen worden zu sein, dann sollten wir das so zum Ausdruck bringen, wie es einerseits dem Aufruf des Psalmbeters und andererseits unserer Mentalität entspricht!
Da geht, vermute ich, viel mehr, als wir meinen. Wenn nach beeindruckenden gottesdienstlichen Erlebnissen gefragt und sich darüber ausgetauscht wird, was einen beseelt hat, was einem nachhaltig in Erinnerung ist, dann werden oft gerade solche Beispiele genannt, die sich von dem unterscheiden, was bei uns etabliert ist und als “normal” gilt - ob Gospelgesang oder Familiengottesdienst, ob spannende Themen, die angesprochen werden, oder die Lebensfreude Jugendlicher, die zu spüren ist.
Am Gründonnerstag war eine sehr kleine Gemeinde versammelt, aber was wir miteinander teilten neben Brot und Wein an Gemeinschaft und liebevoll bereiteten Speisen, das unterschied sich vom x-beliebigen Gottesdienst.
So war und so ist es immer wieder - immer dann, wenn der Gottesdienst nicht als eine Pflichtveranstaltung wahrgenommen wird, die um der Tradition willen auf der Tagesordnung steht, sondern als ein Herzensding stattfindet, wo Menschen mit Leidenschaft beten, singen, hören und um Antworten ringen.
Ich finde, wir sollten einfach öfter mal über unseren Schatten springen, liebe Geschwister, und jener Freude freien Lauf lassen, die in uns ist!
Ich bin voller Zuversicht, daß das nicht ohne Echo bleiben wird: Singt dem Herrn, ihr seine Getreuen, lobpreist zu seinem heiligen Gedenken!
Halleluja! Amen.
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